StoryTails | Freitext Leben üben...

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Leben üben...

Eine tiefdunkle Nacht bricht über mich herein. Ich stehe für mich allein. Wie konnte das nur passieren? Wo stehe ich in meinem Leben? Ich kann nicht zurück. Vielleicht ist das mein Glück. Der Wind weht so sanft über meine Haut, die Träne kullert über meine Wange. Ich stehe hier für mich allein. Vielleicht muss das irgendwann so sein. Es kommt mir vor, wie schonmal erlebt. Als ob es dieses Gefühl ein zweites Mal gibt. Vielleicht in einem Traum, in einer weit entfernten Reise. Es ist als wäre ich diesen Weg schon einmal gegangen. Und doch fühlt es sich an wie eine große Leere. Ich gehe ein Stück, kein Blick zurück. Der Regen fällt, wischt die Tränen weg. Doch sie kommen nach, sie fließen ungebremst. Ein Stich ins Herz, mit dem Gedanken, was einst war und nun verloren ist. Ich lass’ es zu, verdränge es nicht. Ich spüre nach, spüre diesen tiefen Schmerz in dieser tiefdunklen Nacht. Mein Blick öffnet sich. Was wohl dahinten ist? Ein Licht.. ...blick erfüllt mich, während die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf Bewunderung warten. Der Regen wird weniger, mein klopfendes Herz wird ruhiger. Die Wärme der Sonne erreicht mich. Sie lässt mich hoffen, dass alles gut wird. Mein Blick weitet sich. Vögel, die herumfliegen, ein fallendes, goldenes Blatt, welches sachte zu Boden fällt, Wind der in den Kronen der Bäume lebendig wird. Ich lehne mich an einen Baum, lasse mich dort nieder. Spüre mit meinen Händen das nasse Gras und schließe die Augen wieder. Gedanken, die kommen, halte ich nicht, lasse sie wieder los und atme tief ein. In der Ferne geht die Sonne auf. Es sieht wunderschön aus, wie die Morgenröte das Tal erleuchten lässt. Die Nacht geht vorbei, die Sonnenstrahlen erreichen mich, wärmen mich, umarmen mich. Ich fühle mich gehalten, geborgen, in Sicherheit. Wie viel Zeit mir noch bleibt, ist ungewiss. Ich lebe, ich atme, ich spüre...
...in mich hinein. Ich spüre etwas zu sein. Völlig ahnungslos, was es wirklich ist, was wirklich in mir ist, welchen Sinn es hat zu atmen, zu spüren, zu leben. Irgendwas hat mir Kraft gegeben. Fühlt sich so schwer an, immer wieder aufzustehen, das Leben oft allein zu gehen und oft nicht zu verstehen, wieso, weshalb, warum und was und wie, wie oft, wie viele Leben es auf dieser Welt gab und noch gäbe. Kreisen die Gedanken manches Mal zu viel, zu haltlos. Bleibt kein Platz zum sorglosen Leben. Kann es nur einer verstehen, wie ich mich fühle? Gibt es einen, der so fühlt, so liebt und lebt wie ich? Gibt es jemanden, der so einen Schmerz in sich trägt, ohne dass die Zeit den Kummer nimmt? Mein Blick schweift in die Ferne. Das Leben ist überall... ...überall aufblühendes Leben, wie eine Blume, die aus einem klitzekleinen Samen zu einer sonnenanbetenden Pflanze wächst. Überall Leben, sogar dort, wo keiner es je vermuten würde. Es beginnt und geht zu Ende. Freude und Trauer, Reichtum und Verlust, liegen so nah beieinander. Was für den einen das Ende bedeutet, bedeutet für den anderen Beginn, vielleicht auch Neubeginn und Hoffnung. Hoffnung steckt in beidem drin. Im Ende und im Neubeginn. Wie das Blatt, was einst vom Baum ganz sanft herabfiel, wird wieder Teil der Erde. Es ist nicht aufhaltbar, nicht rückgängig zu machen. Zerfällt das Blatt in klitzekleine Teile, doch ist niemals ganz weg. Es ist verbunden mit der Welt, in der ich lebe. Der Baum wird das immer wieder wiederholen, bis er alt geworden ist, seine Blätter ein letztes Mal wachsen, ein letztes Mal fallen. Er wird den letzten Sommer erleben und den letzten Winter. Er wird das letzte Mal Schatten gespendet haben und das letzte Mal ein Zuhause für andere Lebewesen gewesen sein. Solange, bis seine Kraft nur noch für den Verfall reicht. Er wird Platz machen, für neues Leben.
Leben wie mich, Leben wie dich. Ich sehe die Wolken, sie ziehen über mich hinweg. Sie schimmern etwas grau und sind erleuchtet in einem hellen Licht. Was wäre das Leben ohne Licht? Ohne Sonnenlicht? Eine Quelle, die das Leben so sein lässt, wie es ist. Was wäre ein Leben in Dunkelheit? Wäre ein Jemand zum Leben bereit? Wenn Hass und Gier das Leben überschwemmen. Wenn Leid und Qualen sich in Tränen erkennen? Wenn Tränen nicht nur Kummer spiegeln, sondern mit Hoffnungslosigkeit und Zweifel gefüllt sind. Soll ein Jemand all das verdrängen und im Schein der Friedlichkeit sich zufriedengeben? Ich spüre, das kann nicht Sinn und Zweck des Lebens sein. Irgendwas läuft gewaltig falsch. Oder ist es mir so hinzunehmen, wird sich das Leben von selber regeln?
Regeln, die das Leben selbst schreibt, geschehen von ganz allein, sie folgen einer Reihe von großen und kleinen Gesetzen. Doch was der Schlüssel zum Leben ist, bleibt verborgen. Regeln, die menschengemacht sind, werd’ ich nie wirklich begreifen. Manche wirken sinnvoll, gemeinschaftlich, logisch, mache lösen ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Vernunft bleibt klein, wo Gefühle unaufhaltsam, unkontrolliert gefährlich sind. Ich habe Angst, wenn jemand über mich bestimmt. Ich habe Angst, wenn Regeln schädlich sind.
Ich sitze hier, an diesem Baum gelehnt, um mich herum, das Leben. Für mich wird es Zeit aufzustehen und könnte ich mein ganzes Leben hier verweilen, ich würde lieber nein sagen. Es wäre schön und voller Vertrauen, es wäre aber auch einsam ohne Gleichgesinnte in die Zukunft zu schauen und im Hier und Jetzt alleine zu staunen wäre wohl auf Dauer, wie ein Alltag hinter Mauern mit einem kleinen Fenster nach draußen. Ich genieße die Ruhe um mich herum und komme gern hierher zurück...
...ins Leben voller Herausforderungen ohne Plan über richtig und falsch. Moralisch verwerflich oder doch nur für jemand anders ein zu hoher Preis? Eigene Grenzen setzen, für andere unangenehm, der Umgang mit mir. Ich stelle mich dem Hier. Trete für mich ein. Was mir zuvor nicht gelang, setze ich jetzt ein. Wie durch einen Zauberspruch füllt sich die innere Leere, setze den Fokus neu und benenne die Schwere. Was so schwer schien, fühlt sich jetzt leicht an. Überwunden sind die Wunden der Stiche und Tritte und heilen fortan.
Wieder und wieder werde ich hier sein, an diesem Punkt. Meine Narben erinnern mich an meinen Weg, den ich ein Stück gegangen bin. Sie erinnern mich an Dornenbüsche, an denen ich gehangen bin, erinnern mich an die Steine, die mich zum Stolpern gebracht haben und an die Mücke, die mich abermals gestochen haben. Meine Narben erinnern mich an die Wunder, die ich erlebt habe, an das Glück, war es noch so klein. Sie erinnern mich an die Blumen am Weg, an die weiten Felder, an die vertrauen Begegnungen, die mich immer noch begleiten, auch wenn ich sie nicht bei mir habe.
Inzwischen sind die Wolken fort. Nur der strahlendblaue Himmel erstreckt sich über mir. Ich atme tief ein. Die Tiefe dieser Welt. Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, wie der Sand unter meinen nackten Füßen kitzelt. Ich kann das Meeresrauschen hören und die Möwen. Ich kann sie sehen, wie sie schreien und Ausschau nach Nahrung halten. Ich kann mich verbunden fühlen mit der Weite des Ozeans. Ich kann den Wellengang nachempfinden, Ebbe und Flut verstehen. Nichts hat mich je so verstanden wie das Meer. Ich lasse mich treiben auf den Wellen und lasse es zu, wohin auch immer mich das Wasser bringt, ich glaube daran – alles wird gut.
Ich öffne meine Augen und stehe in der Stadt, wo Lärm und graue Mauern sich breitgemacht haben. Der Boden schmerzt an meinen Füßen, der Dreck ist unerträglich. Die Enge dieser Stadt lässt auch mein Herz wieder beben. Tieren vorzuwerfen sie können dort nicht leben ist gegen die Natur. Vielmehr sollten Menschen das Leben freundlicher und friedlich gestalten, für alle Lebewesen, ohne Hass und Eitelkeit. Ich blicke auf die Menschen und steh für mich allein. Ich sehe ihre Hektik und Unbekümmertheit. Ich achte sehr darauf und lenke meinen Blick kaum auf das, was gut verläuft. Doch da gibt es Menschen, die die Welt verzaubern, Menschen groß und klein, sie setzen sich für das Leben aller ein. Das ist eine wahre Kunst und nicht leicht und fertig. Ich schaue zu ihnen rüber und freue mich über ihr Tun. Ich wünschte nur, manchmal nicht selten, ich könnte selbst mehr für das Leben tun.
Meine Reise geht weiter, wohl wissend, dass das Leben voller Geheimnisse und unvorhersehbaren Ereignissen ist. Wohl wissend, dass es voller Leid und Qualen, Schmerz und Grausamkeit ist. Meine Reise geht weiter, weil ich in meinem Inneren spüre, dass da mehr ist. Weil ich spüre, dass dort Hoffnung ist, Liebe und Zuversicht. Weil ich sehen kann, dass der Frieden wächst und weil ich dazu beitragen kann, dass diese Welt eine bessere wird als sie jetzt ist. Ich übe das Leben und falle ich, stehe ich auf. So ist das mit dem Lauf des Lebens. Und irgendwann werde ich und du, wir alle dieses Leben gehen lassen und Platz für neue Leben schaffen. Ich stehe hier für mich allein und ich möchte im Frieden mit dieser Welt sein. Ich möchte alle Narben schätzen, denn sie halfen mir das Leben zu achte. Sie zeigen mir auf, geduldig mit mir und mit anderen zu sein. Meine Reise setze ich jetzt fort...

Freitext · im Solo geschrieben von

veröffentlicht am 17. September 2023 · 531 mal gelesen